24. Oktober 2013

Auf dem Drahtseil

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Spätestens seit dem Erscheinen von „Kings of Disguise“ haben sich James Vance und Dan E. Burr international einen Namen gemacht – ihr gemeinsames Erstlingswerk wurde nicht nur mit einem Eisner Award ausgezeichnet, sondern – und das ist ja schließlich von nicht minder großer Bedeutung –auch von den Lesern hoch gelobt. Der „Guardian“ ging sogar so weit, das Buch in die Top Ten der wichtigsten Comic-Publikationen seit Menschengedenken aufzunehmen.

Solch ein Übermaß an positiven Kritiken ehrt natürlich jeden Künstler, doch macht es jedem weiteren Werk gleichzeitig auch unheimlich schwer: Die Erwartungen sind hoch und der Druck erneut ein Werk auf gleichem Niveau abzuliefern ist immens. Eine schwierige Aufgabe – und erst recht ein Grund einen genaueren Blick auf die Neuerscheinung „Auf dem Drahtseil“ zu werfen!

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Wir befinden uns in Amerika zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise – der Alten, Ende der Zwanziger Jahre – und das Leben könnte leichter sein: Es gibt kaum Arbeit und wer eine Stelle hat, der schuftet in einer der zahllosen Fabriken unter unmenschlichen Bedingung und der Lohn reicht oft nicht aus, um sich selbst (geschweige denn eine Familie) satt zu bekommen. Wer es wagt, gegen diese Umstände aufzubegehren, der findet sich in aller Regel mit übermächtigen Fabrikbesitzern konfrontiert – die weder vor einer schnellen Entlassung des aufmüpfigen Arbeiters scheuen, noch davor, ihn auf nicht ganz legale mundtot machen zu lassen. Es gibt ohnehin genug arme Teufel, die sofort seinen Platz einnehmen können.

Auch unser Protagonist ist bisher eher auf der Schattenseite des Lebens gewandelt: Fred Bloch hat in seiner kurzen Lebensspanne tiefer in den Abgrund menschlichen Elends gesehen, als es andere in ihren ganzen Leben tun – als Waise, der seine Eltern schon früh verlor, bleibt ihm nicht viel anderes übrig, als sich von Tag zu Tag durchzuschlagen. Aus Mangel an Möglichkeiten lebt er in einem leerstehenden Güterwagon. Nicht luxuriös, doch besser als auf der Strasse zu leben und außerdem nicht so einsam: Ein Freund reist mit ihm und im Laufe der Zeit entwickelt sich zwischen den beiden eine wahre Vater-Sohn-Beziehung. Doch auch das Privileg menschlicher Zuneigung bleibt ihm nicht lange erhalten und als sein älterer Freund stirbt, bricht für Fred erneut jeder Rückhalt und jede Kontinuität weg.

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Im Glauben, die Auswirkungen der großen Depression auf diesem Wege auffangen zu können, ersinnt die Works Progress Administration verschiedene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nicht nur im handwerklich-praktischen Bereich werden Stellen vermittelt, auch vor Künstlern jeder Couleur wird nicht Halt gemacht: Auch Theaterbühnen und Kleinkunst bieten Möglichkeiten der Beschäftigung.

So kommt es dann, dass Fred beim Zirkus landet – zumindest in diesem zusammengewürfelten Haufen mehr oder minder tragischer Existenzen findet er eine gewisse Sicherheit in einer Zeit, in der nicht mal das tägliche Abendbrot sicher ist. Zirkusleute halten eben zusammen; wenn auch jeder mit eigenen Problemen zu kämpfen hat.

Für Fred wäre das genauer sowohl seine erste große Liebe als auch der tägliche Umgang mit seinem exzentrischen Arbeitgeber. Gordon Corey ist Entfesslungskünstler und liefert dem Publikum täglich eine atemberaubende Show, doch gleichzeitig kämpft er hinter den Kulissen mit seiner ausgeprägten Alkoholkrankheit – wie so oft im Leben liegen auch hier Licht und Schatten nah beieinander – manchmal eben nur getrennt durch die Plane der Zirkuskuppel.

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Sonderbar wird es dann, als sich eine Verbindung zwischen dem zynischen Entfesslungskünstler und einem kriminellen Duo herauszukristallisieren beginnt – die Bösewichte wurden angeheuert, das gut organisierte Kommunikationsnetz der „Roten“ zu zerschlagen und sie somit davon abhalten, sich gemeinsam gegen die Missstände ihrer Zeit aufzulehnen. Geplant ist nämlich ein großer Streik – in Plan, der besonders auf Arbeitgeberseite auf wenig Gegenliebe stößt. Und dass diese nicht gerade zimperlich sind, wenn es darum geht, ihr System am Laufen zu halten, ist mittlerweile bekannt… Ohne es zu wollen, befindet sich Fred als Sympathisant der Arbeiterbewegung plötzlich inmitten des Spannungsfeldes, dessen Ausmaß ihm selbst erst langsam bewusst wird.

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Das Bemerkenswerte an „Auf dem Drahtseil“ mit Sicherheit besonders die Vielschichtigkeit der Erzählweise – die Handlung verläuft nicht linear, wir bekommen durch Rückblenden immer wieder tieferen Einblick in Motivation und Seelenleben der verschiedenen Charaktere. Außerdem schafft Autor Vance es, nicht nur dem Protagonisten Fred Farbe zu geben, sondern widmet auch jedem Nebendarsteller seine Geschichte genug Zeit, um ihn nicht bloß zu einem blassen Statisten zu degradieren. Wie er dabei die vielen losen Enden der einzelnen Geschichten mit dem einen, roten Faden zusammenführt und alles zu einer packenden Handlung verwebt, ist wahrlich meisterhaft. Wer „Comic“ und „Graphic Novel“ noch immer für leichte Kost hält, der wird hier dankenswerter Weise ganz klar eines Besseren belehrt!

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Qualitativ wertvoll trägt auch Zeichner Burr zu einer erwachsenen, ernsten Erzählweise bei: Die Schwarzweißbilder sind schnörkellos, aber realistisch und erzeugen so eine leicht unterkühlte Atmosphäre, die die Tragik der Erzählung zum Tragen kommen lässt. Auffallend gut ist es ihm aber auch gelungen, die verschiedenen Kulissen einzufangen – sei es der verlassene Güterzug in all seiner Tristesse oder eben die Stimmung im Zirkuszelt während einer Vorstellung; Burr beweist ein gutes Gespür für die Darstellung verschiedenster Situationen.

Fazit

„Auf dem Drahtseil“ ist viel mehr als ein Buch mit Bildern; das Werk des Autors Vance und des Zeichners Burr ist vielmehr als Drama zu kategorisieren, dass in seiner versponnen, vielschichtigen Handlung und mit seinen genialen Charakterporträts in keiner Weise im Schatten großer Prosawerke steht. Große soziale und kleine, sehr persönliche Ausnahmezustände verschwimmen zu einer packenden Rahmenhandlung und es fällt schwer, das Buch – einmal angefangen – wieder beiseite zu legen.

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Kajika

15. September 2016 0
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